von Anne Scriba und Michael Heuss
Unsere Zeit lässt sich als Zeitalter des Raumes begreifen.
Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit,
des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des
Nebeneinander und des Zerstreuten.
Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden,
das sich in der Zeit entwickelt, sondern als
ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte
verbinden.
Individuelle Qualitäten
Wir leben nicht in einem leeren, homogenen Raum,
sondern in einem Raum, der mit zahlreichen Qualitäten
behaftet ist und möglicherweise auch voller
Phantome steckt. Der Raum unserer unmittelbaren
Wahrnehmung, unserer Träumereien und unserer
Leidenschaften besitzt eigene Qualitäten. Er ist leicht,
ätherisch, transparent oder schwer, holprig, voll gestopft.
Es ist ganz oben, auf dem Gipfel. Oder ganz
unten, im Schmutz. Er kann fließen wie Wasser, er
kann fest und starr sein wie Stein oder Kristall.
Utopien
Da sind erstens die Utopien. Utopien sind Orte ohne
realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen,
direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis
zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie
sind entweder das vervollkommnete Bild oder das
Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind
Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume.
Heterotopien
Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder
Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen
Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam
Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte
Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen
realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich
repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil
verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die
außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus
lokalisieren lassen. Wir nennen sie im Gegensatz
zur Utopie, Heterotopie.
Spiegel
Nun soll es zwischen den Utopien und diesen völlig anderen
Orten, den Heteropien, eine gemeinsame, gemeinschaftliche
Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht.
Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort
ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in
einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfl äche
des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein
Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht
und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich
gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt
es sich um eine Heterotopie, insofern der Spiegel
wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung
auf den Ort ausübt, an dem ich mich befi nde. Durch den
Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an
dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen
Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter
dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst
zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und
sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert
als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin,
während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in
Verbindung mit dem gesamten umgebenen Raum und
zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur
über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen
werden kann.
Die Welt ist kein großes Lebewesen.
Der Raum meiner unmittelbaren Wahrnehmung ist individuell.
Die Utopie ist ein Ort ohne Ort.
Die Heterotopie ist eine lokalisierte Utopie.
Nach dem Text von Michel Foucault: „Andere Räume“.