„1440 – Das Glatte und das Gekerbte“

Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix (1980)

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Mit dem Verhältnis zwischen den im Raum befindlichen Menschen und der ihnen
gegenüberstehenden Ordnungssystematik beschäftigen sich Gilles Deleuze und Félix
Guattari in ihrem Buch „Tausend Plateaus“. Darin stellen sie einem „gekerbten Raum“,
der durch Grenzen und Reglementierungen bestimmt ist, den Raum der Sesshaften,
einen „glatten Raum“, der durch Offenheit bestimmt und grenzenlos ist, den Raum der
Nomaden entgegen. Der glatte Raum ist Grundlage für die Entwicklung der
Kriegsmaschinerie, während der Staatsapparat den gekerbten Raum schafft. Sie
existieren allerdings beide nur aufgrund ständiger Vermischung: „der glatte Raum wird
unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum
wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt“. Nichts desto
trotz sind sie ganz klar theoretisch voneinander unterscheidbar.

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Deleuze und Guattari gehen also diesen Differenzen, den Vermischungen, den
Übergängen und Bewegungen dieser beiden Räume auf den Grund. Dazu betrachten
sie verschiedene Modelle.
Das Modell der Musik:
Die beiden Autoren finden die erste modellhafte Darstellung beim Komponisten Pierre
Boulez. „Im Prinzip sagt Boulez, dass man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne
zu zählen, während man in einem gekerbten Zeit-Raum zählt, um zu besetzen“. Es
geht also um die Unterscheidung zwischen metrisch/nicht-metrisch, zwischen
dimensionalen und gerichteten Räumen.
Der glatte Raum ist eher mit Begriffen wie Ordnung, Statik, Stabilität, Gleichmäßigkeit,
Konstanz zu verbinden, während der gekerbte Raum variabel, unregelmäßig,
nicht festgelegt erscheint. Die kontinuierliche Variation, die Verschmelzung
von Harmonie und Melodie zum Ziele der Freisetzung rhythmischer Werte hingegen
zeichnet das Glatte aus.
Das Modell des Meeres:
In beiden hier besprochenen Räumen gibt es Punkte, Linien und Oberflächen. Im
gekerbten Raum werden Linien meist Punkten untergeordnet, Linien sind nur die
Verbindungen zwischen den Punkten, im glatten Raum ist das umgekehrte Prinzip
dominierend. Im glatten Raum ist die Linie ein Vektor, eine Richtung. Er wird
geschaffen durch örtlich begrenzte Operationen und Richtungsänderungen und ist
somit nicht dimensional oder metrisch. Affekte, Ereignisse, geformte oder haptisch
wahrgenommene Dinge dominieren und besetzen ihn. Das Meer gilt als glatter Raum
par excellence und ist der erste Raum, der eine Einkerbung wahrnehmen musste.
Deleuze und Guattari spielen allerdings nicht auf bauliche Einschränkungen in
Landnähe an, sondern auf die Navigation auf hoher See. Dafür verantwortlich sind in
erster Linie die Astronomie und die Geographie.
Anhand immer zahlreicherer Charakteristika wurde der Archetypus aller glatten
Räume immer öfter mit Rastern über- und durchzogen. Ähnlich erging es dem
Luftraum. Die Umkehrung gekerbter in glatte Räume folgte allerdings „auf dem Fuße“.
So zum Beispiel in Form von Unterseebooten, die jegliche Rasterung ignorierten. Das
Glatte ist aufgrund seines Deterritorialisierungsvermögens, dem Gekerbten immer
überlegen.
Anhand der Oberfläche der beiden Räume unterscheiden Deleuze und Guattari diese
prinzipiell auf dreifache Art und Weise:
 umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie
 unterschiedliche Art der Linie (gerichtet-glatt vs. dimensional-gekerbt)
 geschlossene, festgelegte Oberfläche, eingeteilt anhand der Einkerbungen vs. offener
Raum.
Die Unterschiede sind also recht einfach festzumachen, aber umso schwieriger
auszumachen. Man kann nicht einfach nur das Meer, die Wüste, die Steppe und den
Himmel als Glattes sehen. Genauso beeinflussen sich Stadt- und Landgebiet
gegenseitig, es gehen glatte Räume von der Stadt aus, und das Meer wird immer mehr
zum gekerbten Raum.
Die Autoren selbst kommen also zu dem Schluss, dass der einfache Gegensatz glattgekerbt
zu immer mehr Komplikationen führt, je tiefer man theoretisch gräbt. Und
gerade dadurch fühlen sie sich in ihrer Herangehensweise bestätigt. Deleuze und
Guattari sehen die Hauptbegründung dafür in der subjektiven Anschauung, in der
Tatsache, dass die Unterschiede ganz einfach nicht objektiv sind. Als Beispiele werden
hier moderne Nomaden in der Stadt, oder jene, die eingekerbt in der Wüste leben,
genannt. Genauso gibt es aber auch das Reisen an Ort und Stelle.

Nolwenn Pronoste, Marina Weigl

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