INTRO + AUFGABE – LEAR SS 16
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„Die Emanzipation beginnt, wenn man versteht, dass Sehen auch eine Handlung ist, die die Verteilung der Positionen bestätigt oder verändert, (…) dass auch der Zuschauer handelt. Das ist der Sinn des Paradoxes vom unwissenden Lehrmeister: Der Schüler lehrt den Lehrmeister etwas, was der Lehrmeister selbst nicht weiß. (…) Wir müssen das Wissen anerkennen, das im Unwissenden am Werk ist und die Aktivität die dem Zuschauer eigen ist. Jeder Zuschauer ist bereits Akteur seiner Geschichte, jeder Schauspieler, jeder Mann der Tat ist der Zuschauer derselben Geschichte.“
Der emanzipierte Zuschauer,
Jacques Rancière
Der Akt des Ausstellens ist eine Handlung, zumindest, wie sie sich durch die Etymologie des „aus-stellen“ manifestiert. Ausstellen findet seine Ursprünge im lateinischen exponere. Das Präfix ex – aus – und das Verb ponere – setzen, legen, stellen – schildern die Bedeutung von Ausstellen und den damit gemeinten Gebrauch des Wortes. Im Lateinischen ist damit die Auseinandersetzung, das Aussetzen, das Darlegen, das Darstellen gemeint und geht über das Präsentieren und das Zeigen hinaus. Das Exposé oder die Exposition werden eher im fachspezifischen Gebrauch verwendet – Naturwissenschaften, Literaturwissenschaft oder Medizin – und selten im deutschen Sprachgebrauch für das gemeinte Ausstellen: die Praktik in der Kunst, die durch Ausstellungen und Präsentationen Kunst zeigt und zur Schau stellt. Die etymologische Definition von ausstellen wirft nun den Blick auf die Handhabung des Ausstellens und den Umgang mit zeitgenössischen, bildenden und darstellenden Künsten.
Die Prämisse des Ausstellens sind auf die Renaissance zurückzuführen. Die neue weltanschauliche Konzeption des Humanismus und das Hinterfragen von Werten und Moral bilden ein neues Milieu für den Menschen. Der Mensch im Mittelpunkt, als Metapher des Wissens und der Kunst. Eine neue gesellschaftliche und geistige Bedeutung für einen Menschen, natürlich unterworfen durch die religiösen
Bestimmungen. Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und die Künste, geben den Impuls, das Wissen von dem Bürgertum zu emanzipieren – zugänglich und intelligibel zu machen. Das Verstehen von Methoden der Wissenschaft oder der Kunst – dem Lateinischen ars, artis im englischen art und im italienischen arte, die damals nur auf das Handwerk hinwies – wird inszeniert und dem Publikum vorgeführt. In Italien und Frankreich sind anatomische Sektionen von menschlichen Körpern ein Spektakel. Eine präzise Architektur entwickelt sich dafür: das Amphitheater als Grundlage. Das Ausstellen von medizinischen Entdeckungen verbreitet sich später mit der Vorführung von physikalischen Phänomenen.
In der Kunst ist es zunächst die Bourgeoisie im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die durch „private Ausstellungen“ die Meister ihrer Epochen im Le Louvre genießen darf. Später sind Ausstellungen für das gemeine Volk zugänglich, um die absolutistische Macht des Königs vorzuführen. Überall in Europa multiplizieren sich Ausstellungen, um Macht und technische Fortschritte der Nationen zu zeigen.
Im späten 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts sind Ausstellungen ein Mittel der Inszenierung der industriellen Revolution und der Innovationen. Die Zeit der Weltausstellungen etabliert diese Praktik und erweitert sie bis zu unserer heutigen Zeit.
Das Ausstellen rückte in der Jahrtausendwende in den Fokus der kuratorischen Arbeit und der Kunstkritiker. Nicht mehr nur als Akt des Zeigens, sondern als das Hinterfragen einer Praktik, die sich als Kult etabliert hat. Die aufgebaute Distanz und die Frontalität zwischen Objekt und Subjekt werden hinterfragt. Diese Distanz, die individuelle Erfahrung zwischen Objekt und Betrachter unterdrückt, ist nach Pierre Bourdieu nicht nur eine Frage der Erfahrung, sondern des soziologischen, kulturellen und finanziellen Kapitals.
Der philosophische Diskurs über Kunst und ihre Wahrnehmung wird kontextualisiert und findet Resonanz im Akt des Ausstellens. Bourdieus These wird aufgegriffen und hinterfragt: das Ausstellen steht nun im Mittelpunkt. Sind der Akt des Ausstellens
oder die Kunstwahrnehmung eher die Quintessenz des Diskurses über Distanz? Giorgio Agamben spricht über das Ausstellen als eine Absonderung der Kunst, die nicht eine Kunst des Gebrauchs, sondern eine Kunst des Verbrauchs ist. Da wird das Ausstellen zu einem Muster des Konsums, denn es wird nicht gebraucht, um individuelle Erfahrungen und Prozesse zu ermöglichen, sondern verbraucht: Kunstausstellung als Ware. In diesem Sinne ist die Profanierung eine Herausforderung des Ausstellens. Als Beispiel können wir das Kindesalter nehmen. Für ein Kind sind jegliche Elemente und Objekte seiner Umwelt profan. Die Sinne entfalten sich exponentiell, um eine Erfahrung zu haben. Das Kind macht selbst die Erfahrung und lässt Prozesse zu. Bewusst oder unbewusst ist da nicht die Frage. Das Ausstellen und die Kunst zu profanieren, sieht nicht nur Giorgio Agamben, sondern die Kuration und kulturelle Institutionen als notwendig an.
Die Notwendigkeit hat die Kunst durch ihre Entwicklung hervorgerufen. Angefangen bei dem Dadaismus und dem Ready-made bis zu Happening und Performance, das museale kultartige Ausstellen stößt an seine Grenzen und greift nach neuen Konzepten, Raumführungen, kunstpädagogischen Ansätzen und neuen Marketing-Strategien um ihre Legitimität zu schützen. Die Kunst wandelt die Gesellschaft und umgekehrt. Die Veränderungen fordern von dem Ausstellen einen neuen Diskurs und eine Auseinandersetzung mit Inhalten. Die künstlerische individuelle Erfahrung braucht also, nach Agamben, das Spiel:
„Der Übergang vom Heiligen zum Profanen kann nämlich auch durch einen völlig unangemessenen Gebrauch (oder eigentlich erneuten Gebrauch) geschehen. Es handelt sich um das Spiel, Bekanntlich ist die Sphäre des Heiligen mit der Sphäre des Spiels eng verknüpft. Der größte Teil der Spiele, die wir kennen, stammt von uralten heiligen Zeremonien, von Ritualen und Praktiken der Weissagung, die einst im weiten Sinn zur Sphäre des Religiösen gehörten. Der Ringelreihen war ursprünglich ein Hochzeitsritus; das Ballspiel kommt von den Kämpfen der Götter um den Besitz der Sonne; die Glücksspiele stammen von Orakelpraktiken; der Kreisel und das
Schachspiel waren Instrumente zur Weissagung. Durch eine Analyse der Beziehung zwischen Spiel und Ritus zeigte Emile Benveniste, daß das Spiel nicht nur aus der Sphäre des Heiligen herkommt, sondern in gewissem Sinn dessen Umkehrung darstellt. Die Macht des heiligen Aktes – so schreibt er – liegt in der Verbindung zwischen dem Mythos, der die Geschichte erzählt, und dem Ritus, der sie reproduziert und aufführt. Das Spiel zerbricht diese Einheit: als ludus oder handelndes Spiel läßt es den Mythos fallen und bewahrt den Ritus; als iocus oder Wortspiel löscht es den Ritus aus und läßt den Mythos überleben. „Wenn sich das Heilige durch die konsubstantielle Einheit von Mythos und Ritus definieren läßt, dann können wir von Spiel sprechen, wenn nur eine Hälfte der heiligen Handlung ausgeführt wird, indem nur der Mythos in Worte oder nur der Ritus in Handlungen übertragen wird“ “.
Die Medienforschung ist von großem Nutzen und stellt Methoden und Mittel zur Verfügung, die diese Kluft zwischen Objekt und Subjekt minimiert. Als Hülle soll die Architektur dienen und sie stellt eine leichte Widersprüchlichkeit dar. Eine Architektur als Ausstellungsgebäude: diente und dient das Museum nach wie vor nicht diesem Zweck? Viele Fragen zwischen Widersprüchlichkeit und Legitimität folgen und laden Kuratoren, Architekten, Stadtplaner, Designer, Kunstpädagogen, Bildungswissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Politologen ein, nachzudenken und zu experimentieren.
Neue Herausforderungen stellen sich an Architekten, die sich in kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen befinden, die ihre eigene Tätigkeit und das Berufsfeld hinterfragen.
Vieles was in der Kunst zu sehen ist, sprengt den Rahmen des Musealen und bezieht sich nicht mehr auf Räume sondern auf das urbane Gefüge, wie etwa Plätze, Straßen, Bahnhaltestellen und verlassene Gebäude. Das Ausstellen beginnt neue Dimensionen zu erreichen und ist auf dem Weg das reine Zeigen und Präsentieren hinter sich zu lassen und Interaktion und Dialog zu bevorzugen. Die Silhouette der Kunst wandelt sich und lässt neue Formen der künstlerischen Produktion und
Ausdrucks entstehen. Kontextualität ist da von hoher Bedeutung für das Ausstellen und die kuratorische Arbeit.
Nun viele Fragen resultieren aus diesen Ansätzen, wie etwa:
Was bedeutet Ausstellen heute? Ist das Errichten von Ausstellungsarchitektur obsolet oder brauchen wir als Tradition der Menschheit Denkmäler für die Hinterlassung von Spuren unserer Kunst-Zeit?
Lässt das Museale – das Ausstellen bzw. die Ausstellung – und das Museum – die Hülle – eventuelle Umnutzungen und Interventionen zu? Ist da nicht eine neue Interpretation der Ausstellungsarchitektur ebenso vonnöten wie das Ausstellen selbst?
Überspitzt gesagt, braucht heute Kunst überhaupt eine Architektur oder bilden temporäre dynamische Konzepte neue Alternativen?
Architektur will dabei nicht nur der Institutionalisierung der Kunst dienen sondern auch als eigenständiges Kunstwerk fungieren. Die Autorenschaft bei Architekten ist rechtlich nicht nur durch Paragraphen geschützt sondern durch Verträge und Formalitäten, die sowohl Architekten und Bauherren als auch Architekten und Gesellschaft verbinden: Der Werkvertrag illustriert nicht nur die Autonomie der Architektur als solche, sondern ihr Streben, Anerkennung innerhalb der Künste zu genießen. Architektur als Kunstwerk oder als Behälter der Kunst? Architektur als Ausstellungsort oder als ausgestelltes Objekt?
AUSSTELLEN. Zur Kritik der Wirksamkeit in den Künsten,
Kathrin Butsch, Burkhard Maltzer, Tido von Oppeln (Hg.), diaphanes 2016.
Der Emanzipierte Zuschauer, Jacques Rançière, Passagen 2010.
Profanierungen, Giorgio Agamben, Suhrkamp, 2005.
Der Entgegenkommende und der Stumpfe Sinn, Roland Barthes, Suhrkamp,1990.
Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Pierre Bourdieu, Suhrkamp, 1987.
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Dieses Semester besteht eure Aufgabe darin, euch dem übergeordneten Thema Ausstellen anzunähern. Das Forschen, Recherchieren, Experimentieren bilden die Basis. Nach minutiösen Recherchen und Diskussionen in euren Gruppen werdet ihr eine Ausstellung entwickeln, die inhaltliche und konzeptuelle Qualitäten aufweisen soll. Dabei geht es weniger um das Zeigen durch die Mimesis von beispielhaften Ausstellungen, sondern um den Versuch, die Distanz zwischen Objekt und Subjekt zu überschreiten. Nutzt den Intro-Text als Leitfaden für eure Recherche und Analyse. Experimentiert mit Modellen, Fotomontagen, Filmsequenzen und anderen Medien. Der Prozess steht im Vordergrund und das Ergebnis ist dabei der Ausdruck und das Resultat dessen.
Als möglichen Ausgangspunkt bietet sich die letzte Aufgabe des Semesters PERIPHERIE an oder neue Inhalte und Themen, die für euch eine Relevanz haben.
Linksrheinisch der Stadt, im Belgischen Viertel, stehen uns Räume zur Verfügung (museumfuerverwandtekunst.de), die unsere Ausstellung unterbringen werden. In jeder Gruppe wird eine gemeinsame Diskussion zur Auswahl der gezeigten Arbeiten geführt.
AUFGABE
– Entwicklung eines Konzeptes für das zeitgemäße Ausstellen (Eure Ansätze !)
– Räumliche Umsetzung des Konzeptes
– Erstellen eines Booklets im Hochformat: Beschreibung und Dokumentation des Prozes ses und des Ergebnisses.
TOOLS
Die Medien sind frei zu wählen (Analog/Digital).
CORPS EXQUISITE
In der Kunst ist unter anderem das Corps Exquisite das visuelle Tool zur Darstellung des Prozesses und der Fragmentierung. Es ist der Vorgang der Zerlegung eines großen und Ganzen in mehrere kleinere Teile unter einem übergeordneten semantischen Zusammenhang, einer Idee und Metaebene.
Die Doppeldeutigkeit der Ästhetik nach Theodor Adorno oder Alexander Baumgarten kann so gedeutet werden, dass also die Schaffung eines Gegenstandes zum Gegenstand des Schaffens wird. Das bedeutet, dass nicht nur das Werk, sondern die Schaffung des Werkes relevant ist. Zur Schaffung des Werkes und zu seinen Teilen gehört das Sehen, Sprechen, Schreiben und der Prozess.
ORGANISATION SS´16_LEAR_AUSSTELLEN
Nach einem Solo-Semester werdet ihr dieses Sommersemester eure Erfahrung, der letzten Aufgabe PERIPHERIE, im Duo erweitern.
Wir, Prof. Michel Müller, Benjamin Windhoff und Shehrazade Mahassini, bilden selbstständige Gruppen, die die gleiche Aufgabe haben. Dabei geht es um die Vielfalt der Prozesse und Ergebnisse für das Thema “Ausstellen“.
KeE bildet die inhaltliche Grundlage für das Freihandzeichen und umgekehrt. Das Analoge und das Digitale ergänzen sich und überprüfen sich gegenseitig: Corps Exquisite als Methode. Der Maßstab ist zu untersuchen und ermöglicht die Vertiefung des Forschens.