Allein mit dem Exponat

von Joelle Hage
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Ausstellung IKEA (Köln)
Auch hier die Menschenmassen, die sich noch ohne Einkaufswagen durch die Ausstellung drängen. Die meisten Leute wollen vermutlich nur einen Teller Kötbullar oder ein Billy-Regal aus der SB-Halle. Wissen die denn nicht, dass es hier auch Abkürzungen gibt? Es erinnert mich tatsächlich an den Louvre, wo es auch keinen direkten Weg zur Mona Lisa gibt.


Sehen heißt, den Namen einer Sache, die man sieht, vergessen (Paul Valéry)

sich Zeit nehmen, zur Ruhe kommen, betrachten, sich vertiefen, konzentrieren, die Gedanken fliegen lassen, Geräusche ausblenden, andere Besucher nicht mehr wahrnehmen, versinken, erkennen der handwerklichen Ausführung, des Farbenspiels, der Komposition, individuelle Wahrnehmung, Interpretation, Bewertung, speichern, profitieren, dem Exponat und dem Künstler gerecht werden.

Im Kölner Stadt-Anzeiger vom 27.04.2016 wird erklärt, dass der scheidende Direktor des Kolumba Museums in Köln statt auf die „pädagogische Umsorgung“ des Besuchers auf das Gegenteil hinauswolle: „Wie Aber“, fragt er, „wenn gerade der in und mit der Kunst allein gelassene Besucher erst mit diesem Zustand die ideale Voraussetzung für eine Begegnung mit Kunst erhält.“

Ausstellung von Kinderbildern in der Grundschule (Köln)

32 Kinderbilder, A3 mit Tesafilm und Heftzwecken auf einer Stellwand befestigt. Die Anordnung wurde von der Lehrerin ohne Berücksichtigung der Bilder vorgenommen. Die Eltern suchen zuerst das Bild des eigenen Kindes und vergleichen dann mit den anderen Kindern, deren Darstellungen vielleicht kindlicher oder erwachsener sind.

Ausstellung Louvre (Paris)

Anstehen, Gedränge, Taschen abgeben. Alle wollen zur Mona Lisa. Es ist das vielleicht bekannteste Bild der Welt. Warum eigentlich – wegen dem Blick dem man nicht ausweichen kann oder wegen dem undefinierbaren Lächeln? Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es heute noch zum Eifelturm.
Ausstellung Metropolitan Museum of Art (New York)
130.000 m² Ausstellungsfläche, 5 Mio Besucher im Jahr. Das Museum schließt in zwei Stunden, mal sehen wie viel ich noch schaffe, das ein oder andere Exponat hatte ich schon einmal irgendwo gesehen.

Ausstellung Ikea (Köln)

Auch hier die Menschenmassen, die sich noch ohne Einkaufswagen durch die Ausstellung drängen. Die meisten Leute wollen vermutlich nur einen Teller Kötbullar oder ein Billy-Regal aus der SB-Halle. Wissen die denn nicht, dass es hier auch Abkürzungen gibt? Es erinnert mich tatsächlich an den Louvre, wo es auch keinen direkten Weg zur Mona Lisa gibt.

Die Gemütsverfassung und das Interesse

Menschen, die in eine Ausstellung gehen, haben völlig unterschiedliche Beweggründe. Die einen wollen günstig einkaufen oder essen, andere interessieren sich nur für ein Detail und lassen andere Exponate außer Acht. Viele sind vermutlich nur im Schlepptau unterwegs. Manche haben schlecht geschlafen, zu viel getrunken oder sich gerade auf dem Hinweg noch gestritten. Die Füße tun weh. Hoffentlich gibt es ein paar gemütliche Sessel und nicht nur Holzbänke. Schulklassen freuen sich über den vermeintlich freien Tag – spätestens wenn der reguläre Schultag aber zu Ende gewesen wäre, schwindet die Motivation. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, die es wirklich ernst meinen.
Die Ausstellung und auch die Exponate werden von einem Besucher, der sich interessiert und sich auf die Ausstellung vorbereitet hat völlig anders wahrgenommen als von einem unvorbereiteten, uninteressierten Besucher.

Die Leistungsschau

Es sind vor allem wirtschaftliche Zwänge oder Geltungsdrang, die dazu führen, dass oft zu viele Exponate einer zu breiten Öffentlichkeit gezeigt werden. Die angesagt „höher, schneller, weiter“ Leistungsschau führt nur selten zu einer intensiven Interaktion zwischen Besucher und dem einzelnen Exponat. Damit die Besucher sich überhaupt zurechtfinden und nicht von der Masse erschlagen werden, wird die Ausstellung durch Fachleute strukturiert und gestaltet. Genau hier beginnt dann meist die pädagogische Umsorgung der Besucher, genau hier beginnt die Beeinflussung von Wahrnehmung und genau hier
kann die Ausstellung – meist zu Lasten des einzelnen Exponats – auch zum Gesamtkunstwerk werden.
In Zeiten des schnellen, flüchtigen Massenkonsums stellt sich die Frage, ob das überhaupt ein Fehler ist oder ob es sich nicht um genau das handelt, was die Öffentlichkeit verlangt. Stellt die intensive Beschäftigung mit einzelnen Exponaten eine Nische dar, die von der Öffentlichkeit nicht angenommen wird? Muss sich das Ausstellen immer weiter zu einer Show entwickeln?
Ist es nur beim christlich orientierten Kolumba Museum möglich, dass – ähnlich wie in einer Kirche – der Besucher bewusst angehalten wird, um nachzudenken und zu reflektieren?

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus geht davon aus, dass jedes Individuum sich seine eigene subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit schafft. Mithilfe von Sinnenwahrnehmungen nimmt das Gehirn Reize auf, interpretiert sie, verarbeitet sie und konstruiert sich so ein eigenes Bild der Welt. Der aktive Konstruktionsprozess ist stark abhängig von Vorwissen, Erfahrungen, Einstellung und der konkreten Situation.

Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken (Galileo Galilei)

Ich denke, dass viele Menschen noch nie eine intensive Begegnung mit Kunst hatten und dadurch auch mit ganz anderen (oft falschen) Intentionen in eine Ausstellung gehen. Häufig steht in ihrer Wahrnehmung das „Gesehen haben“ viel mehr im Vordergrund als das Sehen an sich. Durch das bewusste Anhalten des Besuchers, gibt man ihm die Chance diese Erfahrung zu machen und ihm dadurch ganz neue Sichtweisen zu eröffnen.

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