FADENSPINNER

von Viola Pritzkau und Denise Zorn


Die Natur, dieser mächtige Mythos, verwandelt sich in eine Fik- tion, in eine negative Utopie: Sie ist bloß noch der Rohstoff. Henri Lefebvre

Spinnen spinnen Fäden. Netz.
Erst Herbst, dann Winter. Gesetz.
Urgewalt. Urmutter. Ursprung. der Urraum. verkannt. vergessen. erstickt. nur noch Traum. Natur.

Den eigentlichen Ausgangspunkt, den Rohstoff und den Rah- men des sozialen Raumes bildet die Natur. Sie ist das tragende Gerüst und bietet die Grundlage, um Raum zu schaffen. Jede Art von Materialität ist im Grunde auf die Natur zurückzuführen, sodass Raum erst durch die Natur konkret und „begrei ich“ werden kann.

Obwohl der Mensch auf die Natur angewiesen ist, rückt sie zunehmend in den Hintergrund. Sie wird zum auslaufenden Rohstoff für eine Gesellschaft, die sich mehr und mehr in der immateriellen Welt des Internets bewegt. Anstelle stabiler, widerstandsfähiger Knotenpunkte zwischen Mensch und Natur treten labile, „verkümmerte“ Berührungspunkte.

Der soziale Raum ist ein soziales Produkt. Henri Lefebvre

wahrgenommen. konzipiert. gelebt. aufgesponnen. eingehüllt. gewebt. Menschen ziehen Fäden. knoten. Fäden ziehen Menschen. loten. Spinnwerk.

Der soziale Raum kann erst durch die darin lebenden Menschen mit ihren jeweiligen Beziehungen, Rhythmen und Werten ent- stehen und gestaltet werden. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich der soziale Raum in einem stetigen Prozess der Verände- rung be ndet, ebenso wie die Gesellschaft von der Vergan- genheit geprägt wird, auf die Gegebenheiten der Gegenwart antwortet und sich auf die Zukunft ausrichtet.

Damals, als die Menschen vor allem auf dem Land in kleinen Dorfgemeinschaften lebten, hatten sie eine kleine Anzahl an Beziehungen, die kaum über die Dorfgrenzen hinausreichten; wenige, jedoch starke Beziehungen, denn einer war von dem anderen abhängig und man musste sich aufeinander verlassen können.

Heute leben die Menschen in Großstädten auf engstem Raum nebeneinander, und doch führen sie eine Art „Parallel-Leben“; jeder lebt für sich. Das Internet bietet durch die sozialen Me- dien und die sozialen Netzwerke ortsunabhängige, ständige Vernetzung mit Menschen auf der ganzen Welt, sodass der Mensch umgeben von unzähligen Beziehungen lebt; vielen, aber nur sehr schwachen Beziehungen, die ihn wie eine Art Kokon umschließen.

Aber dieser Raum ist immer noch, heute wie früher, ein gegen- wärtiger, als ein aktuelles Ganzes gegeben, mit seinen gerade wirksamen Verbindungen und Vernetzungen. Henri Lefebvre

Passt Gegenwart in alte Formen? Passt Zukunft in rezente Normen? Was war. Was ist. Was wird. Wandel. Rohstoff, Produktion und Handel. Zeitlauf.

Letztlich ist der soziale Raum ein Netzwerk aus Beziehungen; Beziehungen zwischen Mensch und Natur, Mensch und Raum, Mensch und Zeit und Menschen untereinander. Es entsteht ein Netzwerk aus dicken und aus dünnen Fäden; mal wenige und mal viele. Alte Fäden verkümmern, neue Fäden werden an- geknüpft; Fäden werden miteinander ver ochten oder fransen aus. Manche Knotenpunkte sind fest und belastbar, andere sind locker und sensibel.

Die Installation stellt den sozialen Raum unter seinen drei ausschlaggebenden Aspekten dar: Natur, Beziehung(en) und Veränderung. Sie repräsentiert die Entwicklung der Beziehung des Menschen zur Natur und den Beziehungen der Menschen untereinander. Hierfür wird auf das Bild der Fäden und des ge- sponnenen Netzwerkes zurückgegriffen.

Wie sozial ist der soziale Raum heute noch?
Und wie sozial wird er sein?
Wie groß ist er, wie viele Menschen passen hinein? Macht der soziale Raum einsam?

Im Grunde beein usst und prägt jeder Mensch als „Fadenspin- ner“ in einer Fäden spinnenden Gesellschaft das entstehende und sich fortlaufend weiterentwickelnde Netzwerk aus Verbin- dungen und Beziehungen.

Die Umsetzung

„Es ist keine Konstruktion, die man irgendwo hinstellt und sagt: ‚So, fertig!‘“ Ines Figert

Grundsätzlich ist die Installation an keinen Ort gebunden, das heißt, sie kann theoretisch überall aufgebaut und an die jewei- ligen Bedingungen angepasst werden, denn „jede Gesellschaft produziert einen ihr eigenen Raum“ (Henri Lefebvre). Demnach ist der soziale Raum so vielfältig wie die verschiedenen Gesellschaften und die in ihnen lebenden Menschen.

In gewisser Weise spielt sogar das letztendliche Produkt, die „fertige“ Installation eine untergeordnete Rolle, denn im Zentrum steht vor allem die Produktion und der Prozess des Schaffens selbst: die Entwicklung, das Spinnen und Weben eines Netzwerkes aus Seilen, Kordeln und Fäden, eingebunden in den Kontext der jeweiligen Umgebung.

„Man lernt ganz viel dabei; auch beim Beobachten. Ich mache es ja, wie ich es mache. Aber wenn es jemand anderes macht, wird es vielleicht etwas völlig anderes.“ Ines Figert

Wir entschieden uns dazu, den Prozess der Entstehung des Netzwerkes anhand eines Filmes darzustellen. „Leitfaden“ der Handlung war die Entfremdung des Menschen zu der Natur und die veränderte Konstellation von zwischenmenschlichen Beziehungen, festgehalten in dem Film durch die schrittweise Entfernung aus der Natur und den Übergang beziehungsweise die Au ösung eines dicken, tragfähigen Seilstranges in ein Ge- echt aus zunehmend dünner und sensibler werdenden Fäden.

Im Rahmen dieses übergeordneten Konzeptes galt es, intuitiv auf die Gegebenheiten des Ortes zu reagieren. Dieser Aspekt der Intuition während des Arbeitsprozesses macht die Installati- on jedes Mal zu einem einmaligen Unikat, denn zu einer ande- ren Zeit, an einem anderen Ort und/ oder von anderen Men- schen erstellt könnte das fertige Produkt ganz anders aussehen. Es gibt in dem Sinne kein Regelwerk, nach dem die Installation genau aufzubauen ist.

Als Quelle der Inspiration und Beratung bezüglich der Umset- zung des Projektes dienten die Arbeiten von und das Gespräch mit der Designerin Ines Figert.

 

Der Film

In dem Film wurde für die Inszenierung der Entwicklung des sozialen Raumes der Wald als Handlungsort gewählt. Unter- legt wurde er durch ineinander übergießende Tonaufnahmen von Vogelgezwitscher, Stimmen einer großen Menschen- menge, Straßenlärm und schließlich dem abstrakten Schleifen und Quietschen eines großen Schiffes. Auf subtile Weise kann somit der Übergang von konkreten Beziehungen zu Natur und Mensch zu einer zunehmend von Maschinen und Medien ge- prägten, abstrakten Welt dargestellt werden.

Die ersten Szenen des Filmes spielen sich auf einer Lichtung
im Wald ab, denn Ursprung war und ist die Natur. Fäden, die von einem dick ge ochtenem, fest mit einem Baumstamm ver- bundenen Seil ausgehen, werden weitläu g über die Lichtung gesponnen; der Mensch bzw. die Gesellschaft hat noch intakte Berührungs- und Knotenpunkte zu der Natur und die Beziehun- gen innerhalb der Gesellschaft sind zwar wenige, dafür jedoch „dicke“.
Je weiter sich die Fäden von dem Ursprung entfernen, desto mehr lösen sie sich in dünnere Fäden auf, enden, oder werden an neue Fäden angeknüpft; die Anzahl der Beziehungen nimmt zu, allerdings sind es fortschreitend instabilere Beziehungen. Der Ort verlagert sich. Von der Lichtung führen die Seile in einen engen, dunklen Tunnel; ein weiterer Schritt weg von
der Natur. Anstelle natürlicher Knotenpunkte wie Bäume oder Felsen treten Nägel, die in die Tunnelwände geschlagen wur- den. Stetig werden mehr und mehr Fäden gesponnen. Manche sind nur sehr bedürftig miteinander verbunden, andere hängen schlaff durch. Es entsteht ein dichtes Netzwerk aus dünnen Fä- den, die schließlich jegliches weitere Durchqueren des Tunnels unmöglich machen; der Mensch ndet sich einsam stehend und isoliert, in gewisser Weise „gefangen“ und umgarnt von zahl- reichen, (meist) nur ober ächlichen Beziehungen.

Zum Schluss des Filmes bleibt es offen, ob und wie sich das Netzwerk weiterentwickeln wird. Wird es sich au ösen und ver- kümmern? Wird es sich weiter verdichten? Bleibt es im Tunnel oder wird es auf der anderen Seite des Tunnels austreten?

 

 

 

 

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